Da war er nun also, nur einige wenige Meter entfernt, zum Greifen nah. Doch er traute sich nicht mit seiner Hand den Gral zu umschließen. Er, der die tiefsten Täler durchschritten, die höchsten Berge überwunden, die größten Ozeane überquert hatte, ja er verblieb in einer sehnsüchtigen Beobachtung, die schon halb das Heiligtum berührende Hand sinken lassend. Er fuhr mit seiner rechten Hand nachdenklich durch seinen dichten, dunklen Vollbart, in welchem an einigen Stellen bereits graue Akzente zu erkennen waren und die lange Reise, über Monate und Jahre, dokumentierten.
Nach einer schier ewiglichen Suche in Bibliotheken, Museen, Universitäten und weiteren kulturellen Institutionen fand er den Standort des Grals heraus. Er erinnerte sich genau an diesen einen trüben Wintertag, der die ohnehin vereisten Gesichter der Menschen weiter gefrieren ließ. Er hatte die gesamte Woche mit der Rekonstruktion einer alten Karte, sie stammte aus der Antike - der Zeit der Cäsaren, der Tribunen, der großen Philosophen – verbracht. Ein Spaziergang durch den pulverfeinen Schnee, Blicke in die von dem reinen Weiß bedeckten Zweige der Bäume, sein weit in die Ferne schweifendes und dennoch zielloses Schauen über die das Sonnenlicht reflektierende Eisfläche eines gefrorenen Sees brachte die Erleuchtung.
Die Karte setzte sich wie von selbst urplötzlich vor seinem geistigen Auge zusammen, er erkannte das Ziel, wusste jedoch nicht, wo es lag. Es ist müssig nun davon zu erzählen, wie er es suchte und schließlich fand, denn er begann als junger Mann und steht nun bereits gegen Ende seines Daseins vor ihm. Zu lang würde das Berichten dauern, zu viele Seiten würden von schwärmerisch-melancholischen Zeilen gefüllt werden und zu viel Wehmut würde durch diese in die Herzen der geschätzten Leser gelangen. Deshalb bleiben wir bei der eingangs beschriebenen Szene: dem nach dem Gral greifenden, jedoch davon ablassenden Mann.
Der Gral, wie er nun in greifbarer Nähe vor ihm stand, war wunderschön und das ist noch die größte Untertreibung. Von ihm ging ein goldener Glanz aus, der eine wohlige Wärme ausstrahlte. Die kunstvollen Ornamente und die glitzernden Edelsteine mussten zwangsläufig bei jedem Betrachter den Funken zur Leidenschaft überspringen lassen. Viele würden gierig danach greifen, es kaum erwarten können, davon zu kosten. Doch unser Protagonist gehörte zu den einigen Wenigen, welche befangen vor ihm stehen, erstarrt vor der Schönheit und unfähig diese an sich zu nehmen.
All die vielen Stufen herauf hatte er sich vorgestellt, wie es wäre ihn zu sehen, zu bewundern, zu nehmen, zu kosten. Nun war er weder bereit, noch würde er es so schnell werden, dies wurde ihm in diesem Moment klar. Zwar war der Gral von unbeschreiblicher Perfektion und erhellte den dunklen Raum allein durch seine strahlende Präsenz. Doch der Mann erkannte, dass der Gral ihn nicht beachtete, nicht ihm sein Funkeln galt. Und da wurde er sehr bestürzt, nicht in der Weise einer resignativ-depressiven Bestürzung, wie es ihm vielleicht in seinen Jugendjahren widerfahren wäre, sondern es war eher eine traurig-schöne Erkenntnis, die ihn auf eine nicht rational zu erklärende Art zutiefst glücklich machte. So wie er mit gesenkten Kopf da stand, hätte es ein Außenstehender anders interpretieren können, doch dieser Außenstehende hätte, wie der Mann den Gral, nur eben von seiner Fassade her beurteilen können. In Wirklichkeit lächelte der Mann nämlich, eines dieser Lächeln, welches von Weisheit, Erfahrung und Güte zeugte. Zugleich lief ihm eine Träne der Freude über die Wangen, welche sich den Weg durch seinen dichten Bart bahnte, kurz an seinem Kinn verharrte und nachdem sie sich dort komplett versammelt hatte, von diesem löste und zu Boden viel. Durch das Licht des Grals wurden tausende Erinnerungen des Mannes darin reflektiert, schöne sowie schreckliche, und all diese zusammen machten ihn zu dem, der er war.
Langsam drehte er sich um, mit einem letzten Blick den Gral streifend und mit dem Wissen, dass er ihm solange entsagen müsse, bis er auch bereit sei, diesem gerecht und von ihm beachtet zu werden, drehte er sich um. Hinter ihm öffnete sich der Boden zu einem großen Spalt und Vibrationen fuhren über den Sockel, auf welchem der Gral stand. Durch diese kleinen Erschütterungen in Bewegung geraten wanderte er an den Rand seiner Plattform und stürzte schließlich in den Spalt, sein grelles Leuchten ward wie die Eruption der Sonne und erhellte die Dunkelheit, viele Hände griffen danach, doch nun war er auf eine Reise gegangen und so entglitt er ihnen früher oder später wieder.
Der Mann trat ins Freie, es war ein trauriger Herbst. Um ihn herum regierte die triste Traurigkeit und der Himmel war grau, als würde dieser im nächsten Augenblick Asche regnen wollen. Er blieb inmitten einer kargen Lichtung stehen und blickte mit geschlossenen Augen gen Himmel. Ein halbes Jahr später war diese Lichtung durch die Wärme der sommerlichen Sonnenstrahlen und des vorangegangenen belebenden Frühlings in ein sattes Grün gehüllt. In dem Gras der prächtigen Lichtung wiegten sich rote Mohnblumen. Tigeraugen flatterten durch die Luft und setzten sich auf die ein oder andere strahlend-leuchtende Pflanze. Der blaue Himmel war wolkenlos und ein mächtiger Adler nutzte die frischen Ostwinde zum Auftrieb, stieß schließlich hinab auf die Lichtung, setzte sich auf den gesunden Ast einer stolzen Eiche und blickte mit seinen scharfen Augen in die weite Ferne.
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